Prometheus – oder Wie Frankenstein in die Welt kam

 

Der erste Akt des unausgestrahlten Audiodramas von Gordon L. Schmitz

 

mit Texten von Mary Wollstonecraft Shelley

 

 

Erzähler:           Eine Julinacht, 1816. Das Jahr ohne Sommer. Die Literaten George Gordon Lord Byron und Percy Shelley, sowie dessen junge Verlobte Mary Wollstonecraft, sitzen im Opiumrausch in einer Villa am Genfersee. Die grade 19-Jährige Mary erzählt von einem jungen Medizinstudenten namens Viktor Frankenstein, der aus Leichenteilen einen Menschen erschafft und fortan von seinem selbstherbeigeführten Unglück verfolgt wird…

 

(Die ganze Geschichte ist untermalt vom tosenden Sturm, tosendem Donner, den knarrenden Balken des Holzes, dem Prasseln des Kaminfeuers.)

 

 

Percy:                          Bitte, meine Liebe. Erzähle uns mehr von deiner Geschichte. Erzähle uns von Frankenstein.

 

Wir hören das Rascheln von Papier.

 

Mary:               Den Teil hier habe ich erst heute Morgen geschrieben:   „Meine Magd wurde zum Tode verurteilt wegen eines Mordes, den sie nicht begangen hatte. Ich alleine wusste, dass der wirkliche Mörder jene scheußliche Kreatur war, die ich erschaffen hatte! Während des Urteilsspruchs hatte ich mich in einen Winkel des Raumes zurückgezogen und versuchte der entsetzlichen Stimmung Herr zu werden, die sich meiner bemächtigt hatte. Verzweiflung! War es nur Verzweiflung? Das arme Opfer, das morgen die dunkle Schwelle zwischen Leben und Tod überschreiten musste, empfand ja bei weitem keine so tiefe, bittere Seelenpein wie ich! Ich befand mich in einer entsetzlichen, geradezu unerträglichen Lage, und als ich an den ernsten Gesichtern der Richter erkannte, dass sie, der Stimme des Volkes entsprechend, die Unselige verurteilen mussten, stürzte ich von Höllenqualen gepeinigt aus dem Saal. Das Leid der Angeklagten reichte nicht im geringsten an meine eigenen heran; sie hatte immerhin das Gefühl der Unschuld in der Brust, während in mir die scharfen Zähne für immer eingegraben hatten! Sie würde bald tot sein – ich aber musste mit meiner Schuld leben!“ – Das sagt uns Viktor Frankenstein.

 

Byron:                          Wundervoll, was für einen reifen, formvollendeten Stil Ihr schon habt, Kind!

 

Mary:                           Und so, wie die Kreatur einen geliebten Menschen nach dem nächsten hin meuchelt, so flieht Frankenstein immer weiter und weiter. Doch anstatt der Zerstörung zu entkommen, anstatt sich einfach seiner Kreatur zu stellen, reißt er eine Spur des Todes durch das Land.

 

Percy:                          Lasst mich mehr hören, Liebling!

 

Mary:                           „Weint nur, ihr Unseligen, das sind noch lange nicht eure letzten Tränen gewesen! Wiederum ist es euch bestimmt, die Totenklage anzustimmen und zu weinen. Frankenstein, euer Sohn, euer Bräutigam, euer treuer, geliebter Freund und Bruder, der für euch gern sein Herzblut vergossen hätte, der keine Freude empfand, die sich nicht zugleich in euren Augen wiedergespiegelt hätte, der euer Leben gern mit Glück erfüllt – er muss euch Tränen, ungezählte, bittere Tränen verursachen!

 

So sprach meine ahnende Seele, als ich, erdrückt von Gewissensbissen, Entsetzen und Verzweiflung auf meine Lieben sah, die sich in Gram an den Gräbern von … jenen Opfern, den ersten, armen Opfern meiner verruchten Künste, verzehrten!“ – Ich habe noch keine Ahnung, wer die Opfer alle sind, es fehlen noch viele Details. Ich habe Lücken zu schließen, groß wie Gletscherspalten!

 

Man hört, wie Mary einen tiefen Zug von einer Pfeife nimmt.

 

Percy:              Gibt’s du mir mal die Pfeife rüber, Schatz?

 

Byron:                          Ich fand ja immer, dass „den Drachen jagen“ ein furchtbar pathetischer Ausdruck für den Konsum von Opium ist.

 

Parcy:                          Und das sagt ausgerechnet Lord Byron, der Autor solcher Sätze wie: Mit Orpheus Geschick, zu zähmen das Thier, / Der Glut des Prometheus, die Menschen zu glühn; / Tyrannen zerschmolzen selbst, lauschten sie dir / Und Schlechtigkeit scheute des Seelenblicks Sprühn.

 

Sie lachen.

 

Byron:                          Da ist nirgendwo von einem Drachen die Rede… haha! Ach, was eine Geschichte! Wie wundervoll dramatisch! Die grausamste, roheste Darstellung der Menschlichen Natur! Aber es reicht diesem jungen Mädchen nicht, eine schauerliche Geschichte zu erzählen, nein! Sie muss Moral haben und Gewicht und eine Lehre sein!

 

Es donnert.

 

Percy:              Und der tosende Sturm bietet die perfekte Kulisse!

 

Byron:              Und wir drei mittendrin! Wir eleganten drei! Ich mag gerne glauben, dass es die Muse Kalliope ist, welche ihre Geistesblitze durch das Unwetter direkt hier auf mein Haupt schleudert!

 

Percy:              Dann will ich auf Euch trinken: Auf Lord Byron, Englands größten Sünder!

 

Byron:              Aber vielleicht gelten die Blitze ja Euch, lieber Shelley, Englands größtem Poeten!

 

Percy:                          (Lacht. Es donnert.) Komm her, Mary, komm zu mir ans Fenster und sieh dir den Sturm an!

 

 

 

Mary:                           Weißt du, irgendetwas an diesen Blitzen jagt mir eine Gänsehaut ein. Percy, mein Darling, wärst du so freundlich und zündest die Kerzen an?

 

 

 

Percy:             Ach, Mary, Darling.

 

Lord Byron:      Was eine erstaunliche Kreatur.

 

 

 

Mary:               Ich, Lord Byron?

 

 

 

Lord Byron:      Fürchtet sich vor dem Donner, fürchtet sich vor der Dunkelheit. Und doch habt ihr eine Geschichte erdacht, welche mir das Blut zu Eis gefrieren lässt!

 

 

 

Mary:               (Mary lacht) Ach wirklich?

 

 

 

Byron:                          Seht Sie Euch an, Shelley. Welch seltsames Tier ist der Mensch! Und Weiber gar! Ihr Kopf, ihr Herz, was für ein Labyrinth! Was für ein Strudel, tief und voll Gefahr! Vermählt, verwitwet, ledig, immer sind Sie rastlos wie der Wind und wandelbar. Man glaubt man kenne sie, und dann beginnt Die Sache oft recht rätselhaft zu werden; Das ist uralt und immer neu auf Erden.

 

(Er nimmt einen weiteren, tiefen Zug)

 

Könnt Ihr glauben, dass dieses schöne und zahme Kind, mit ihren 16 Jahren, diese fürchterliche Geschichte erdacht hat? Eine Kreatur erschaffen aus Kadavern! Ist das nicht erstaunlich?

 

Ich weiß nicht, warum Ihr das denkt. Was habt Ihr denn erwartet? Das Publikum unter diesem Dacht braucht etwas Stärkeres als eine harmlose kleine Spukgeschichte. Warum sollte ich also nicht von Monstern schreiben?

 

Mary:                           Ich weiß nicht, warum Ihr das denkt. Was habt Ihr denn erwartet? Das Publikum unter diesem Dacht braucht etwas Stärkeres als eine harmlose kleine Spukgeschichte. Warum sollte ich also nicht von Monstern schreiben? Und es war ja auch Ihre Idee, Schauergeschichten zu erfinden.

 

 

 

Byron:                          Wenn wir schon während dieses fürchterlichen Sturm hier festsitzen, können wir unsere kreativen Energien auch anderweitig verwenden. Selbst unser guter Doktor Polidori, dieser Kurpfuscher, hat uns eine Geschichte von Untoten Blutsaugern erzählt! Vampire – hast du jemals einen Roman über ein solches Thema gelesen, Shelley?

 

 

 

Mary:               Und du nennst ihn nur einen Kurpfuscher, weil du neidisch auf seine Arbeit bist.

 

 

 

Percy:              Schade, dass er und deine Cousine schon so früh gehen mussten, Mary.

 

 

 

Mary:                           Ich will eben nicht, dass Claire unter demselben Dach wie Byron hier schläft. Er soll sich beim nächsten Mal genau überlegen, wen er schwängert! Erst seine eigene Schwester, und nun meine Cousine!

 

 

 

Percy:              Mary, bitte, können wir nicht das Thema wechseln?

 

 

 

Mary:               Eifersüchtig, Schatz?

 

 

 

Lord Byron:      Haha! Wenn Polidoris Erzählung denn verlegt wird, ganz zu schweigen von der fürchterlichen Geschichte unserer Mary hier, wäre die Öffentlichkeit fast zu schockiert, wie von meinem Privatleben!

 

 

 

Mary:                           Ein eitler Gockel seid Ihr! Aber ich bin mir sicher, dass meine Geschichte eines Tages verlegt wird.

 

 

 

Shelley:            Dann, Darling, wirst du für vieles grade stehen müssen.

 

 

 

Mary:                           Die Verleger werden wahrscheinlich nicht sehen, dass ich ein Gleichnis über die Verantwortungslosigkeit des Menschen schaffen wollte. Natürlich ganz, ohne dass ich ein Vorbild gehabt hätte, versteht sich…

 

Byron:                          Was auch immer Euer Zweck war, liebes Mädchen: Ich genieße jedes einzelne Grauen eurer Erzählung, ich lasse sie mir auf der Zunge zergehen! Frankenstein, welcher die Körper aus ihren frischen Gräbern stiehlt, wie er in meinem Laboratorium unterm Dachstuhl in aller Heimlichkeit arbeitet, die Toten zerpflückt und ein menschliches Ungeheuer erschafft, so angsteinflößend, so grauenvoll, dass nur ein wahnsinniger Geist damit aufwarten konnte! Und dann die Morde! Das kleine Kind, erwürgt. Die Magd – undschuldig – hingerichtet. Die Jagd – Frankenstein hinter der Kreatur her, die Kreatur sucht ihren Schöpfer - in diesen Bergen um uns herum. Und du warst weiße, Mary, diesen Schauplatz hier zu wählen: Die mächtigen Alpen gemahnen an Pyramiden und Kathedralen, als gehörten sie schon nicht mehr dieser Erde und wären einen Wohnsitz fremdartiger Lebewesen. And it was these fragile white fingers that penned the nightmare! Frankenstein! Frrran-Kenn-Schtein!

 

Shelley:            Wie bist du eigendlich auf den Namen “Frankenstein” gekommen, Mary?

 

 

 

Mary:                           Ganz einfach: Der Name verspricht eine Geschichte im Stile Deutscher Schauerliteratur… Es sind in den letzten gut dreißig Jahren über dreihundert solcher Romane in England erschienen, wusstet Ihr beiden großen Literaten das? Und ich will mich in diese Tradition einreihen. Die Leser werden also wissen, was sie erwartet.

 

 

 

Byron:              Ihr seht, Shelley, Eure Verlobte hat ihre Bibliothek gründlich studiert!

 

 

 

Percy:                          Liebste, banne diese finsteren Gedanken. Denke daran, dass wir alle hier unsere Hoffnung, nicht nur literarisch (alle lachen) auf dich setzen. Sind wir denn nicht imstande, dich wieder zu fröhlicheren Gedanken zu bewegen? Du bist ja nahezu besessen von deiner Geschichte! Wenn wir uns lieben, wenn wir treu zu einander halten, hier in dem Lande der Schönheit und des Friedens, direkt am Genfersee! Was also könnte unseren Frieden stören?

 

 

 

Es klopft.

 

 

 

Mary:               Oh Gott, welche arme Seele verirrt sich denn bei diesem Sturme hier her?

 

 

 

Byron:              Percy, willst du nicht gehen und nachschauen, wer es ist –

 

 

 

Mary:                Und bitte aufmachen und ihn hereinlassen, Herrgott nochmal! Bei diesen Umwetter…

 

 

 

Percy:              Willst du nicht nachschauen, wer es ist, damit ich bei meiner Mary bleiben kann?

 

 

 

Byron:                          Nein, mein Bester, es tut mir leid. Ich bin viel zu sehr mit rauchen beschäftigt, als das ich mich dazu bemühen könnte.

 

 

 

Mary:                           Sagen wir es so: Ihr wart den ganzen Abend viel zu sehr mit rauchen beschäftigt, als dass Ihr noch geradeaus gehen könntet.

 

 

 

Percy:              Na gut, ich gehe… (Er entfernt sich)

 

 

 

Byron:                          Wo könnten wir denn auch hingehen? (Er nimmt einen tiefen Zug) Scheinbar unendliche Weiten erstrecken sich vor mir,  ich bin verdammt dazu, eine barbarische Weite zu durchwandern. Eine Seele, welche grade erst den Fesseln des Körpers entflohen und nun unterwegs ist zu den Gestirnen, könnte nicht überwältigter sein von diesem Augenblick. (Er nimmt einen weiteren Zug, stößt auf.) Bewegt von diesem heiligen Ernst beginnen wir nun unsere schier unendliche Reise.

 

Percy:              (Von weiter weg) Hilfe! Ich brauche Hilfe!

 

 

 

Byron:              Was? Ach, verdammte…

 

 

 

Percy:                          (Tritt ein, wir hören, wie alle aufspringen) Helft mir, ihn auf die Chaise Lounge zu legen.

 

 

 

Mary:               Wer ist das, ist alles in Ordnung mit ihm?

 

 

 

Wir hören den Mann, Viktor, keuchen.

 

 

 

Percy:                          Der Mann stand so draußen im Regen, er brach zusammen, bevor er auch nur ein Wort sagen konnte…

 

 

 

Mary:               Oh Gott, er hat starkes Fieber!

 

 

 

Byron:                          Es wundert mich, dass er überhaupt noch lebt, so durchnässt wie seine Sachen - oder eher: seine Lumpen – sind

 

 

 

Mary:                           Leben wird er aber nicht mehr lange, wenn wir ihn nicht schnell warm bekommen. Schnell, schiebt ihn näher an den Kamin!

 

 

 

Wir hören, wie die schwere Chaise Lounge über die Dielen gezogen wird.

 

 

 

Mary:               Eine Decke muss her!

 

 

 

Percy:              Ich hole eine!

 

 

 

Mary:                           Alles wird gut, hören Sie? Bevor die Nacht vorüber ist, sind Sie schon wieder auf den Beinen. Schtt.

 

 

 

(Die Stimmen und Geräusche verschwinden langsam, Musik setzt ein. Einige Zeit ist vergangen.)

 

 

 

Byron:              Hier, trinkt!

 

Viktor:              Oh Gott, dieses Gefäß ist ein Totenschädel!

 

Byron:                          Oh ja! Ich bin der festen Überzeugung, dass die verstorbenen Größen des Geistes auch nach ihrem Ableben etwas von ihrem Genie behalten, und es quasi erst langsam wegsickert, oder ausgedünstet wird. Und wenn man es schafft, sich dieses etwas, diesen Geist einzuverleiben, durch Schnecken beispielsweise, die auf Gräbern von Philosophen ihre Nahrung finden, oder eben dadurch, dass man aus ihren Schädeln trinkt, nährt man das eigene Genie, nimmt ihren Funken in sich auf.

 

Viktor:              Ein neuartiger Ansatz, soviel steht fest… Und wessen Schädel ist das?

 

Byron:                          Der von Donatien Alphonse François de Sade, der letztes Jahr verstarb. Seine Familie wurde enteignet, als er inhaftiert wurde, und ich bot mich an, die Kosten für die Bestattung und Instandhaltung seines Grabes zu übernehmen. Nun ja, das mag vielleicht nur die halbe Wahrheit gewesen sein, aber ja: Ich kümmere mich auch weiterhin um die Grabstätte – und was vom Marquis übrig ist.

 

Viktor:              Und warum ist dort an der Seite ein Loch?

 

Byron:              Wollen Sie nicht etwas trinken?

 

Viktor:              Ach was, wollen Sie nicht lieber weiterreden?

 

Byron:                          Nichts lieber! Wissen Sie, vor einigen Monaten da sah ich des Nachts einen Geist durch mein Schlafzimmer ziehen, also zog ich eine Pistole unter meinem Kissen hervor und schoss auf ihn! Doch die Kugel ging einfach durch das Gespenst hindurch und traf den Schädel! Meine Schwester erschreckte sich neben mir fast zu Tode!

 

Viktor:              Ihre Schwester im Bett neben Ihnen?

 

Byron:              Halb-Schwester, wohl gemerkt!

 

Viktor:                          Ich hatte gehofft, dass abartigste an der Geschichte wäre der Trink-Schädel auf seiner Nachtkommode…

 

Byron:              Diese perverse Leidenschaft war meine tiefste, das muss ich gestehen.

 

Mary:                           Bitte, lassen Sie sich nicht von Lord Byron erschrecken. Er ist verrückt, schlecht und es ist gefährlich ihn zu kennen. Ich bin Mary Wollstonecraft, und das ist mein Verlobter, Percy Shelley. Und Sie sind?

 

Viktor:              Mein Name ist… Viktor Frankenstein.